15

Zwei Telegramme

 

Maigret las sie mit lauter Stimme dem Untersuchungsrichter Coméliau vor, der sich verärgert zeigte.

Das erste war die Antwort von Mrs. Mortimer-Levingston auf das Telegramm, das ihr die Ermordung ihres Mannes mitteilte.

 

Berlin. Hotel Modern. Krank, hohes Fieber, Kommen unmöglich. Stones wird das Notwendige erledigen.

 

Maigret lächelte bitter.

»Begreifen Sie? Hier ist dagegen das Telegramm aus der Wilhelmstraße. Es ist in ›Polcode‹ abgefaßt. Ich übersetze:

 

Ankunft Mrs. Mortimer per Flugzeug, abgestiegen Hotel Modern, Berlin, wo sie nach der Rückkehr aus dem Theater Pariser Depesche vorfand. Hat sich ins Bett gelegt und den amerikanischen Arzt Felgrad kommen lassen. Doktor verschanzt sich hinter Berufsgeheimnis. Soll Amtsarzt hingeschickt werden? Hotelpersonal hat keine Krankheitssymptome bemerkt.

 

Wie Sie sehen, Herr Coméliau, legt diese Dame keinen Wert darauf, von der französischen Polizei verhört zu werden. Wohlbemerkt, ich behaupte nicht, daß sie die Komplizin ihres Mannes ist. Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, daß er ihr neunundneunzig Prozent seiner Machenschaften verheimlicht hat. Mortimer war nicht der Mann, der sich einer Frau anvertraut, schon gar nicht seiner eigenen. Aber auf ihr Konto geht zumindest die Nachricht, die sie eines Abends im Pickwick’s einem Eintänzer überbracht hat, den das Gerichtsmedizinische Institut mittlerweile eingefroren hat … Vielleicht das einzige Mal, daß sich Mortimer unter dem Zwang der Umstände ihrer bedient hat …«

»Und Stones?« fragte der Richter.

»Persönlicher Sekretär Mortimers. Er stellte die Verbindung zwischen dem Chef und den verschiedenen Unternehmungen her. Zum Zeitpunkt des Verbrechens war er seit acht Tagen in London. Abgestiegen im Hotel Victoria. Ich habe dafür gesorgt, daß er nichts erfährt. Aber ich habe mit Scotland Yard telefoniert, damit man ihn überwacht. Hinzuzufügen wäre noch, daß Mortimers Tod in England noch nicht bekannt war, als die englische Polizei im Victoria vorstellig wurde, es sei denn in den Zeitungsredaktionen. Dennoch war der Vogel ausgeflogen. Stones hatte sich wenige Augenblicke vor dem Eintreffen der Inspektoren aus dem Staube gemacht …«

Der Richter warf einen finsteren Blick auf den Stapel von Briefen und Telegrammen, die sich auf seinem Schreibtisch häuften.

Der Tod eines Milliardärs ist ein Ereignis, das Tausende von Menschen erschüttert. Und die Tatsache, daß Mortimer eines gewaltsamen Todes gestorben war, alarmierte alle, die in geschäftlicher Verbindung mit ihm standen.

»Finden Sie, wir sollten das Gerücht von einem Verbrechen aus Leidenschaft in die Welt setzen?« fragte Coméliau ohne rechte Überzeugung.

»Ich halte das für klug. Andernfalls verursachen Sie zunächst einmal einen Börsenkrach und ruinieren eine Reihe angesehener Unternehmen, angefangen bei den französischen Firmen, die Mortimer kürzlich wieder flottgemacht hat.«

»Sicherlich, aber …«

»Passen Sie auf! Die Botschaft der Vereinigten Staaten wird Beweise von Ihnen verlangen … Und Sie haben keine! … Ich auch nicht …«

Der Richter putzte seine Brillengläser.

»So daß …?«

»Nichts! … Ich warte auf Nachricht von Dufour, der seit gestern in Fécamp ist … Ordnen Sie für Mortimer ein schönes Begräbnis an … Was spielt das schon für eine Rolle? … Es wird Reden, offizielle Delegationen geben.«

Seit ein paar Augenblicken beobachtete der Justizbeamte Maigret mit einiger Neugier.

»Sie sehen so merkwürdig aus …«, bemerkte er plötzlich.

Der Kommissar lächelte, schlug einen vertraulichen Ton an.

»Das Morphium!« sagte er.

»Wie?«

»Keine Angst! Das ist nicht etwa mein neustes Laster. Eine einfache Spritze in die Brust … Die Ärzte wollen mir zwei Rippen wegnehmen, behaupten, das sei unbedingt notwendig … Aber das ist eine irre Arbeit! … Ich muß ins Krankenhaus und wer weiß wie viele Wochen dableiben … Ich habe sie um einen Aufschub von sechzig Stunden gebeten. Alles, was ich dabei riskiere, scheint eine dritte Rippe zu sein … Zwei mehr als Adam! … So ist es! Und nun nehmen auch Sie das noch tragisch! … Man sieht, daß Sie die Sache noch nicht mit Professor Cochet diskutiert haben, dem Mann, der im Innern aller Könige und Mächtigen dieser Erde herumgestochert hat … Der würde Ihnen, genau wie mir, erklären, daß Tausende von Leuten gut leben, obwohl ihnen das eine oder andere Körperteil fehlt … Nehmen Sie den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten … Cochet hat ihm eine Niere entfernt … Ich habe sie gesehen … Er hat mir alles mögliche gezeigt, Lungen, Mägen … Und ihre Besitzer gehen irgendwo in der Welt ihren kleinen Geschäften nach …«

Er schaute auf seine Uhr und murmelte vor sich hin:

»Verdammter Dufour!«

Und sein Gesicht wurde wieder ernst. Das Arbeitszimmer des Untersuchungsrichters war blau vom Rauch seiner Pfeife. Als wäre er in seinem eigenen Büro, saß Maigret auch hier auf der Ecke des Schreibtischs.

»Ich glaube, ich sehe mich lieber selbst in Fécamp um!« seufzte er schließlich. »In einer Stunde geht ein Zug …«

»Eine scheußliche Geschichte!« sagte Coméliau abschließend und schob die Akte zur Seite.

Der Kommissar war in die Betrachtung des blauen Dunstes versunken, der ihn wie ein Heiligenschein umgab.

Die Stille wurde nur durch das Knistern seiner Pfeife unterbrochen oder besser, skandiert.

»Sehen Sie sich dieses Foto an!« sagte er plötzlich.

Er hielt ihm das von Pleskau hin, mit dem Haus des Schneiders, dem weißen Giebel, dem Flaschenzug unter dem Dach, der Freitreppe mit den sechs Stufen, die Mutter sitzend, der Vater um Haltung bemüht, die beiden Jungen mit besticktem Matrosenkragen.

»Das ist in Rußland! Ich mußte im Atlas nachsehen. Nicht weit von der Ostsee. Da gibt es mehrere kleine Länder: Estland, Lettland, Litauen … Begrenzt von Polen und Rußland. Die Landesgrenzen stimmen nicht mit den Volkszugehörigkeiten überein. Manchmal wechselt die Sprache von Dorf zu Dorf. Und darüber hinaus gibt es dort die Juden, die überall verstreut sind, aber dennoch ein Volk für sich bilden. Hinzu kommen die Kommunisten! An den Grenzen wird gekämpft, es gibt ultranationalistische Armeen. Die Leute leben von ihren Kiefernwäldern. Die Armen sind noch ärmer als anderswo, und manche sterben an Hunger und Kälte.

Einige Intellektuelle verteidigen die deutsche Kultur, andere die slawische und wieder andere das Land und die alten Dialekte.

Es gibt Bauern mit Gesichtern wie Lappen oder Kalmücken, dann große blonde Teufel und schließlich ein ganzes Gemisch von Juden, die Knoblauch essen und die Tiere anders schlachten als die übrigen …«

Maigret nahm dem Richter das Bild wieder aus der Hand, das dieser ohne sonderliches Interesse betrachtet hatte.

»Komische Kerlchen!« bemerkte er nur.

Er gab es dem Justizbeamten zurück und fragte:

»Können Sie mir sagen, welchen von beiden ich suche?«

Bis zur Abfahrt des Zuges hatte er noch eine dreiviertel Stunde Zeit. Coméliau musterte den Jungen, der dem Objektiv zu trotzen schien, und dessen Bruder, der sich ihm zuwandte, als wollte er ihn um Rat bitten.

»Solche Fotos sind schrecklich vielsagend!« nahm Maigret den Faden wieder auf. »Man fragt sich, warum die Eltern und Lehrer, die sie gesehen haben, nicht auf den ersten Blick erkannten, was aus diesen Kindern werden würde.

Schauen Sie sich den Vater an … Er wurde eines Abends bei einem Aufstand getötet, als auf den Straßen Kommunisten gegen Nationalisten kämpften … Er gehörte weder zur einen noch zur anderen Partei … Er war aus dem Haus gegangen, um Brot zu holen … Ich habe das durch Zufall vom Besitzer des Hotels Roi de Sicile erfahren, der aus Pleskau stammt …

Die Mutter lebt immer noch, bewohnt weiterhin das Haus. Sonntags zieht sie die Nationaltracht an, mit der hohen Haube, die an den Seiten des Gesichts weit hinabreicht … Die Jungens …«

Er unterbrach sich.

»Mortimer«, sagte er in anderem Ton, »ist auf einer Farm in Ohio geboren und hat als Schnürsenkelverkäufer in San Francisco angefangen. Anna Gorskin ist in Odessa geboren und hat ihre Jugend in Wilna verbracht. Mrs. Mortimer schließlich ist Schottin und schon als Kind nach Florida ausgewandert.

Sie alle, finden im Schatten von Notre-Dame in Paris zusammen, und mein Vater war Jagdhüter auf einem der ältesten Güter der Loire.«

Er sah wieder auf die Uhr und wies dann auf das Bild des Jungen, der seinen Bruder bewundernd anblickte.

»Jetzt geht es darum, daß ich diesen Jungen da erwische!«

Er klopfte seine Pfeife im Kohlenkasten aus und hätte beinahe automatisch den Ofen versorgt.

 

Kurz darauf sagte Coméliau zu seinem Schreiber, während er seine goldeingefaßte Brille putzte:

»Finden Sie nicht, daß Maigret sich verändert hat? Er schien mir … wie soll ich sagen … ein wenig nervös … ein bißchen …« Er suchte vergeblich nach dem Wort, brach den Gedanken ab: »Was, zum Teufel, suchen alle diese Ausländer bei uns?«

Mit einer brüsken Geste schlug er die Akte Mortimer wieder auf und diktierte:

»Im Jahre neunzehnhundert …«

 

Wenn Inspektor Dufour in demselben Mauerwinkel stand, wo Maigret an jenem Regenmorgen auf den Mann im Trenchcoat gewartet hatte, dann nur, weil dies die einzige Ecke auf dem abschüssigen Weg war, der erst an einigen Villen seitlich der Steilküste entlangführte, dann zum Pfad wurde und sich schließlich im Gras verlor.

Dufour trug schwarze Gamaschen, einen kurzen Mantel mit Rückengurt und eine Seemannsmütze, die in Fécamp jeder aufhatte und die er gleich nach seiner Ankunft gekauft haben mußte.

»Nun?« fragte Maigret, als er sich ihm in der Dunkelheit näherte.

»Alles in Ordnung, Chef.«

Das erschreckte den Kommissar ein wenig.

»Was ist in Ordnung?«

»Der Mann ist weder hineingegangen noch herausgekommen. Wenn er vor mir in Fécamp eingetroffen ist und sich in die Villa begeben hat, muß er immer noch drin sein …«

»Erzähl in allen Einzelheiten, was bisher geschehen ist.«

»Gestern morgen nichts! Das Dienstmädchen ist zum Markt gegangen. Am Abend habe ich mich von dem Kollegen Bornier ablösen lassen. Auch in der Nacht ist niemand hineingeschlüpft oder herausgekommen. Um zehn Uhr ging das Licht aus …«

»Weiter?«

»Heute morgen habe ich meinen Posten wieder übernommen, und Bornier hat sich hingelegt … Er wird mich gleich ablösen. Wie gestern hat sich das Dienstmädchen gegen neun Uhr zum Markt begeben … Vor einer halben Stunde hat die junge Dame das Haus verlassen … Sie wird bald zurückkehren … Ich nehme an, sie macht einen Besuch …«

Maigret sagte nichts. Er spürte, daß diese Beschattung unvollkommen war. Aber wie viele Männer wären für eine wirklich strenge Überwachung erforderlich?

Allein um die Villa zu beobachten, wären drei Späher nicht zuviel. Und man brauchte einen Polizisten, der dem Dienstmädchen folgte, und einen weiteren für die ›junge Dame‹, wie Dufour sich ausdrückte.

»Vor einer halben Stunde ist sie fortgegangen?«

»Ja … Sehen Sie, da ist Bornier … Jetzt kann ich essen gehen … Seit dem frühen Morgen habe ich nur ein Brötchen zu mir genommen, und meine Füße sind eiskalt …«

»Geh!«

Bornier war noch sehr jung und stand bei der Kriminalpolizei in der Ausbildung.

»Ich bin Frau Swaan begegnet …«, sagte er.

»Wo? Wann?«

»Am Quai … Eben … Sie ging in Richtung Mole …«

»Ganz allein?«

»Ganz allein … Ich wäre ihr fast gefolgt … Dann fiel mir ein, daß Dufour auf mich wartet … Der Damm führt nirgendwo hin, sie kann nicht weit gekommen sein …«

»Was hatte sie an?«

»Einen dunklen Mantel … Ich habe nicht so sehr darauf geachtet …«

»Kann ich abhauen?« fragte Dufour.

»Ich hab es dir doch gesagt …«

»Wenn etwas ist, benachrichtigen Sie mich, hm? … Sie brauchen nur dreimal am Hoteleingang zu klingeln.«

Es war zu dumm! Maigret hörte kaum zu. Er befahl Bornier:

»Bleib hier!«

Und er rannte zur Villa Swaan, riß beinahe die Klingelschnur am Gartentor ab. Im Erdgeschoß sah er Licht, und zwar in dem Zimmer, das, wie er wußte, der Eßraum war.

Als nach fünf Minuten immer noch niemand erschienen war, kletterte er über die niedrige Mauer, ging zur Tür und pochte mit der Faust dagegen.

Im Innern wimmerte eine ängstliche Stimme:

»Wer ist da?«

Und im selben Augenblick begannen die Kinder zu schreien.

»Polizei! … Machen Sie auf!«

Ein Zögern. Schritte.

»Öffnen Sie schnell!«

Der Flur war dunkel. Als Maigret eintrat, konnte er nur den hellen Fleck erkennen, den die Schürze des Dienstmädchens im Dämmerlicht bildete.

»Frau Swaan?«

In diesem Moment ging eine Tür auf, und er sah das kleine Mädchen, das er bei seinem ersten Besuch bemerkt hatte.

Die Hausangestellte rührte sich nicht. Starr vor Angst, drückte sie sich mit dem Rücken an die Wand.

»Wen hast du heute morgen getroffen?«

»Ich schwöre Ihnen, Herr Wachtmeister …«

Sie brach in Tränen aus.

»Ich schwöre Ihnen, ich …«

»Herrn Swaan?«

»Nein! … Ich … Es war … der … Schwager der gnädigen Frau … Er hat mich gebeten, einen Brief für sie mitzunehmen …«

»Wo war das?«

»Vor der Metzgerei … Er erwartete mich …«

»Hat er dich schon öfter mit solchen Aufträgen betraut?«

»Nein … Nie … Außerhalb des Hauses habe ich ihn nie gesehen.«

»Und du weißt, wo er sich mit Frau Swaan verabredet hat?«

»Ich weiß nichts! … Die gnädige Frau ist den ganzen Tag aufgeregt gewesen … Auch sie hat mir Fragen gestellt … Sie wollte wissen, wie er aussah … Ich habe die Wahrheit gesagt, daß er den Eindruck eines Mannes machte, der Unheil anrichten wird … Als er sich mir näherte, hatte ich selbst Angst.«

Ohne die Tür zu schließen, verließ Maigret das Haus.

Maigret und Pietr der Lette
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